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Über die vier Hauptfeinde
1. DIE FURCHT / ANGST
2. DIE KLARHEIT
3. DIE MACHT
4. DAS ALTER
"Kann jeder ein Wissender sein?" fragt Castaneda Don Juan.
"Was muss denn ein Mensch tun, um ein Wissender zu werden?"
"Er muss seine vier natürlichen Feinde herausfordern und besiegen. Ja ein Mensch kann sich nur dann wissend nennen, wenn
er fähig ist, alle vier Feinde zu besiegen".
"Kann denn jeder, der diese Feinde schlägt, ein Wissender sein?"
"Jeder, der sie besiegt hat, wird ein Wissender".
"Aber gibt es nicht irgendwelche besonderen Bedingungen, die ein Mensch erfüllen muss, bevor er mit diesen Feinden kämpft?"
"Nein jeder kann versuchen ein Wissender zu werden; sehr wenigen gelingt es wirklich, aber das ist nur natürlich. Die
Feinde, die ein Mensch der ein Wissender werden will auf dem Weg des Lebens trifft, sind wirklich schrecklich, die meisten
Menschen unterliegen ihnen."
"Was für Feinde sind das, Don Juan?
"Wenn ein Mensch anfängt zu lernen, ist er sich über seine Ziele nicht klar. Sein Vorsatz ist schlecht, seine Absicht wage.
Er hofft auf Belohnungen, die nie eintreffen werden, denn er weiß nichts von den Härten des Lebens. Er beginnt langsam zu
lernen - zuerst Schritt für Schritt, dann in größeren Sprüngen. Und bald sind seine Gedanken durcheinander. Was er lernt,
ist nicht was er sich ausgemalt hat und so beginnt er sich zu ängstigen. Lernen ist niemals, was man erwartet hat. Jeder
Schritt des Lebens ist eine neue Aufgabe, und das Erleben der Furcht nimmt erbarmungslos und unnachgiebig zu. Sein Vorsatz
wird ein Schlachtfeld.
Und so ist er über seinen ersten Feind gestolpert:
DIE FURCHT
Ein schrecklicher Feind - tückisch und schwierig zu überwinden. Er bleibt an jeder Wegbiegung verborgen, lauernd, wartend.
Und wenn der Mensch, erschrickt durch ihre Anwesenheit, fortläuft, wird sein Feind seine Suche beendet haben."
"Was geschieht mit dem Menschen, wenn er aus Furcht davonläuft?"
"Nichts geschieht mit ihm, nur wird er niemals lernen. Er wird niemals ein Wissender werden. Er wird vielleicht ein Angeber
oder ein harmloser ängstlicher Mensch; auf jeden Fall wird er ein geschlagener Mensch sein. Sein erster Feind wird seinem
Verlangen ein Ende gesetzt haben."
"Und wie kann er die Furcht besiegen?"
"Die Antwort ist sehr einfach. Er darf nicht fortlaufen. Er muss seine Furcht besiegen, er muss ihr trotzen und den
nächsten Schritt gehen und den nächsten und den nächsten. Er muss nur aus Furcht bestehen und das darf er nicht aufhören.
Das ist die Regel! Und ein Moment wird kommen, wo sein erster Feind zurückweicht. Der Mensch beginnt sich seiner selbst
sicher zu sein. Sein Vorsatz wird stärker. Lernen ist nicht länger eine erschreckende Aufgabe. Wenn dieser glückliche
Moment gekommen ist, kann der Mensch, ohne zögern sagen, dass er seinen ersten natürlichen Feind besiegt hat."
"Geschieht das plötzlich, oder allmählich?"
"Es geschieht allmählich, doch wird die Furcht plötzlich und schnell überwunden."
"Aber wird ein Mensch sich nicht wieder fürchten, wenn ihm etwas Neues geschieht?"
"Nein ein Mensch, der einmal die Furcht überwunden hat ist für den Rest seines Lebens frei von ihr, weil er anstatt der
Furcht Klarheit gewonnen hat - eine Klarheit der Gedanken, die die Furcht auslöscht. Aber dann kennt ein Mensch seine
Wünsche: er weiß sie zu befriedigen. Er kann die neuen Schritte des Lebens voraussehen, und alles ist von deutlicher
Klarheit umgeben. Der Mensch fühlt, dass nichts verborgen ist.
Und so hat er seinen zweiten Feind getroffen:
DIE KLARHEIT
Diese Klarheit der Gedanken, die so schwierig zu erlangen ist, vertreibt die Furcht, aber sie macht auch blind. Sie zwingt
den Mensch, sich niemals selbst anzuzweifeln. Sie gibt ihm die Sicherheit, alles zu tun, was ihm gefällt, denn er sieht die
Dinge klar. Und er ist mutig, denn er ist sicher und er schreckt vor nichts zurück, weil er sich eben sicher ist. Aber all
das ist ein Fehler, es ist etwas unvollständiges. Wenn der Mensch dieser vorgetäuschten Macht nachgibt, ist er von seinem
zweiten Feind besiegt worden und wird mit dem Lernen spielen. Er wird eilen, wenn er geduldig sein soll, oder er wird
geduldig sein, wenn er eilen sollte. Und er wird mit dem Lernen spielen, bis er endet, unfähig, noch irgendetwas zu lernen."
"Was wird aus dem Mensch, der so besiegt wird, Don Juan, stirbt er deswegen?"
"Nein, er stirbt nicht. Sein zweiter Feind hat ihn nur kaltgestellt bei dem Versuch ein Wissender zu werden. Statt dessen
könnte aus ihm ein gleichgültiger Kämpfer werden oder ein Clown. Aber die Klarheit, für die er so teuer bezahlt hat, wird
sich nie wieder in Dunkel oder Angst verwandeln. Er wird klar sehen, so lange er lebt, aber er wird auch nichts mehr
lernen, oder nach irgendwas suchen."
"Was muss er tun, um nicht besiegt zu werden?"
"Er muss tun, was er mit der Furcht getan hat: er muss seiner Klarheit trotzen und nur mit ihr sehen und geduldig warten und
vorsichtig abwägen, bevor er neue Schritte tut; er muss vor allem denken, dass seine Klarheit fast ein Fehler ist. Und ein
Augenblick wird kommen, da er verstehen wird, dass seine Klarheit nur ein Punkt vor seinen Augen war. Und so wird er seinen
zweiten Feind besiegt haben und er wird in eine Lage kommen, in der ihm nichts mehr Schaden kann. Das wird sein Feind sein.
Es wird nicht nur ein Punkt vor seinem Auge sein, es wird wahre Macht sein. Zu diesem Zeitpunkt wird er wissen, dass die
Macht, die er schon so lange gesucht hat, endlich die seine ist. Er kann mit ihr machen, was ihm gerade dazu einfällt. Er
beherrscht seinen Verbündeten. Sein Wunsch ist Gesetz. Er sieht alles was um ihn herum ist.
Aber er hat auch seinen dritten Feind getroffen:
DIE MACHT
Macht ist der stärkste aller Feinde. Und natürlich ist es das einfach, dem nachzugeben. Schließlich ist der Mensch
unbesiegbar. Er befiehlt, er beginnt berechnete Risiken einzugehen und macht Gesetze, denn er ist der Herrscher.
Ein Mensch auf dieser Stufe bemerkt kaum, wie der dritte Feind ihn einkreist. Und plötzlich wird er, ohne es zu merken,
gewiss seinen Kampf verloren haben. Sein Feind wird ihn zu einem grausamen, unberechenbaren Menschen gemacht haben."
"Wird er seine Macht verlieren?"
"Nein, er wird niemals seine Klarheit oder seine Macht verlieren."
"Was wird ihn dann von einem Wissenden unterscheiden?"
"Ein Mensch, der von der Macht besiegt ist, stirbt, ohne wirklich gewusst zu haben, wie mit ihr umzugehen ist. Macht ist nur
eine Last über sein Schicksal. Solch ein Mensch hat keine Gewalt über sich selbst und kann nicht entscheiden, wann oder wie
er seine Macht anwenden soll."
"Ist eine Niederlage durch einen dieser Feinde eine endgültige Niederlage?"
"Natürlich ist sie endgültig. Wenn einer dieser Feinde einen Menschen zu Fall gebracht hat, gibt es nichts, was er noch tun
kann."
"Ist es zum Beispiel möglich, dass ein Mensch, der von der Macht besiegt wurde, seinen Fehler einsieht und auf seinen Weg
zurückkehrt?"
"Nein, wenn ein Mensch einmal nachgibt, ist er erledigt."
"Aber was geschieht, wenn er nur vorübergehend von der Macht geblendet wird und sie dann zurückweist?"
"Das bedeutet, dass sein Kampf noch weiter geht. Dass bedeutet, dass er immer noch versucht ein Wissender zu werden. Ein
Mensch ist nur dann besiegt, wenn er nicht länger versucht und sich selbst aufgibt."
"Aber ist es dann nicht möglich, Don Juan, dass ein Mensch sich vielleicht jahrelang der Furcht ergibt, aber er sie
schließlich besiegt?"
"Gewiss nicht. Wenn er sich der Furcht ergibt, wird er sie niemals besiegen, weil er das Lernen scheuen und es nie wieder
versuchen wird. Aber wenn er inmitten seiner Furcht jahrelang zu lernen versucht, wird er sie eventuell besiegen, weil er
sich ihr nie ergeben hat."
"Wie kann er seinen dritten Feind besiegen, Don Juan?"
"Er muss ihn vorsätzlich herausfordern. Er muss einsehen, dass die Macht, die er scheinbar gewonnen hat, niemals wirklich
seine ist. Er muss sich jeder Zeit selber beherrschen, und alles, was er gelernt hat, vorsichtig und ehrlich gebrauchen.
Wenn er sieht, dass Klarheit und Macht ohne Selbstbeherrschung schlimmer als Fehler sind, wird er einen Punkt erreichen, wo
sich ihm alles fügt. Dann wird er wissen, wann und wie er seine Macht gebraucht. Und so wird er seinen dritten Feind besiegt
haben.
Der Mensch wird am Ende seiner Reise des Lebens sein, und fast unversehens wird er dem letztem seiner Feinde begegnen:
DEM ALTER
Dieser Feind wird der grausamste von allen sein, er ist der, den er nicht völlig schlagen kann, sondern nur bekämpfen. Das
ist die Zeit, da ein Mensch keine Furcht mehr kennt, keine ungeduldige Klarheit der Gedanken - das ist eine Zeit, da er
seine Macht beherrscht, aber es ist auch die Zeit, da er ein unüberwindliches Verlangen nach Ruhe hat. Wenn er seinem
Verlangen, auszuruhen und zu vergessen völlig nachgibt, wenn er sich selbst in Müdigkeit wiegt, wird er seine letzte Runde
verloren haben und sein Feind wird ihn zu einem schwachen, alten Geschöpf niederstrecken.
Sein Verlangen sich zurückzuziehen wird all die Klarheit, seine Macht und sein Wissen unterdrücken. Aber wenn der Mensch
seine Müdigkeit abschüttelt und sein Schicksal zu Ende lebt, kann er ein Wissender genannt werden, wenn auch nur für den
kurzen Augenblick, da es ihm gelingt, seinen letzten unbesiegbaren Feind abzuschütteln. Dieser Augenblick der Klarheit, der
Macht und des Wissens ist genug."
von Carlos Castaneda